Freitag, 18. März 2011

Verfassung I

Donnerstag Abend, in einer engen Gasse im Zentrum der Stadt. Auf den Gehsteigen und am Straßenrand stehen die Plastikstühle der Cafes dicht an dicht. Eine hochgewachsene Frau im langen schwarzen Gewand, bestickt mit uzähligen Perlen, tritt an einen Tisch, die vier Männer, die dort an ihren Wasserpfeifen ziehen, sehen auf. "Ihr musst 'Nein' stimmen!" fordert die Frau mit lauter Stimme und schüttelt die dunklen Locken.  "Diese Verfassung verrät unsere Revolution! Sie gibt dem Präsidenten zuviel Macht. Nichts wird sich ändern, wenn ihr mit Ja stimmt!" "Wenn wir mit Ja stimmen, wird ein neuer Präsident gewählt", sagt einer der Männer, "der wird sich darum kümmern, dass eine wirklich neue Verfassung geschrieben wird." "Das glaubt ihr!" ruft die Frau. Man merkt ihr an, dass sie diese Diskussion schon mehr als einmal geführt hat. "Ich sage euch: Wir sollten uns nicht auf einen Präsidenten verlassen. Wir selbst müssen dafür sorgen dass wir eine neue Verfassung bekommen!"



Sie ist mutig. Wenige Straßen weiter, wo die Tische in kleinen Gruppen unter ausladenden Bäumen stehen, verteilen zwei junge Männer Flyer, die dazu aufrufen gegen die Verfassung zu stimmen. Auf einmal steht die Militärpolizei vor ihnen und will sie verhaften. Menschen springen auf, stellen sich vor sie, Sprechchöre werden laut: "Lasst sie frei! Lasst sie frei!" und "Wir wollen eine neue Verfassung!" Die beiden kommen davon - und setzen ihre Arbeit eine Straße weiter fort.
Am Samstag wird über die neue Verfassung abgestimmt. Ein vom Militär ernanntes Gremium hat sie ausgearbeitet, nun soll sie, gerade einmal einen Monat nach der Revolution, durch eine Volksabstimmung abgesegnet werden. Die Jugend-Netzwerke die die Proteste zum großen Teil getragen haben, rufen dazu auf Nein zu stimmen, ebenso die liberalen Oppositionsbündnisse und -Parteien. Sie kritisieren, die Verfassung sei fast dieselbe wie zuvor, die Amtszeit des Präsidenten sei nun zwar auf zwei Amtszeiten begrenzt, er habe aber nach wie vor fast unbegrenzte Macht. "Wer sagt uns dass wir nicht den nächsten Mubarak bekommen?" fragt Ismail, ein Aktivist der Bewegung "Jugend für soziale Gerechtigkeit und Freiheit". Die radikal-islamischen Muslimbrüder hingegen rufen ihre Anhänger_innen auf, mit Ja zu stimmen. Prognosen darüber, wie die Abstimmung ausgehen wird, gibt es bisher nicht.
Dafür umso mehr Diskussionen - und eine zunehmend angespannte Stimmung in der Stadt. Das Militär hat verboten, in den Medien über die Verfassung zu berichten oder in der Straße Werbung für oder gegen sie zu machen. Ungeachtet dessen streifen unzählige kleine und größere Gruppen durch die Stadt, Button mit "Nein" an der Schulter, verteilen Flyer, verwickeln jeden und jede in ein Gespräch. Aktivist_innen berichten von heftigen Streits mit ihren Eltern, die Ja stimmen wollen und den Jugendlichen vorwerfen, Unruhe und Unsicherheit im Land zu verbreiten sollten sie sich gegen die neue Verfassung wenden.

Das Militär hat angekündigt, am Samstag, dem Tag der Abstimmung, keinerlei öffentliche politische Äußerung zuzulassen. Auch Diskussionen in der Straße sind offiziell verboten. Mehrere zehntausend zusätzliche Soldaten und Polizisten sollen an diesem Tag eingesetzt werden, um den Verlauf der Wahl zu überwachen. Wie diese ablaufen soll, war bis vor wenige Tag unklar. Jetzt heißt es: Es gibt keine Wahlbezirke, jeder kann mit seinem Personalausweis wählen wo immer er möchte. Wer versuche, doppelt zu wählen, droht das Militär, werde mit zwei bis vier Jahren Haft bestraft. Wie das kontrolliert werden soll ist bisher unklar. Unabhängige Wahlbeobachter soll es keine geben.

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